Triumphe, Typen und Tragödien
Der Handball feiert am kommenden Sonntag seinen 100. Geburtstag. Das Erste zeigt zur Feier des Tages nach dem Länderspiel zwischen Deutschland und Spanien, der Neuauflage des EM-Finals von 2016 in Polen, die 60-minütige Dokumentation „Handball ein Jahr100sport“ (16.15 Uhr/ARD). Der SID listet zum Jubiläum einige der größten Schlaglichter auf.
GEBURTSSTUNDE DES HANDBALLS: Es war der 29. Oktober 1917, als der Berliner Oberturnwart Max Heiser festlegte, dass das 1915 von ihm für Frauen entworfene Spiel „Torball“ zukünftig „Handball“ heißen solle. Der „Ausschuss für Frauen- Mädchenturnen des Berliner Turnraths“ goss die Heiserschen Ideen in offizielle Regeln – die Sportart Handball war geboren. Zwei Jahre später entwickelte der Berliner Turnlehrer Carl Schelenz Heisers Spiel weiter und machte es auch für Jungen und Männer attraktiv, indem er Zweikämpfe erlaubte und den Ball verkleinerte. Die restlichen Grundlagen wie Spielfeld, Mannschaftsgröße und Schiedsrichter übernahm Schelenz praktischerweise vom Fußball. Erster deutscher Meister im Feldhandball wurde 1921 der TSV 1860 Spandau. Während der Naziherrschaft gewann die deutsche Nationalmannschaft zwei WM-Titel 1938 (Feld und Halle) und Gold bei den Olympischen Sommerspielen von 1936. Es sollte das erste und einzige Mal bleiben, dass Feldhandball olympisch war. 1949 wurde schließlich der Deutsche Handballbund DHB gegründet. Der Hallenhandball fand aber erst 1972 in München den Weg ins olympische Programm, seit 1976 werden bei Sommerspielen auch Frauen-Wettbewerbe ausgetragen.
LEGENDÄRER KEMPA: Abspringen, Ball im Flug fangen und werfen – Tor: Die Beobachter rieben sich verwundert die Augen. So etwas hatte die Handball-Welt noch nicht gesehen, als der Kempa-Trick am 24. März 1954 bei einem inoffiziellen Länderspiel zwischen Deutschland und Schweden (10:10) in der Schwarzwaldhalle in Karlsruhe uraufgeführt wurde. Bernhard Kempa hat aber nicht bloß mit der Erfindung seines legendären Tricks ein großes Stück Handball-Geschichte geschrieben. „Monsieur Handball“, wie ihn die renommierte französische Sportzeitung L’Equipe einst adelte, gewann als Spieler und Trainer Meistertitel en masse – und gehörte sowohl auf dem Feld als auch in der Halle zu den besten seiner Zunft. Kempa bestritt 31 Länderspiele (131 Tore) und führte das Team der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1952 und 1955 zu zwei Weltmeistertiteln auf dem Feld. Der „Fritz Walter des deutschen Handballs“ (Handballwoche) war DER Star der „Wechseljahre“ seiner Sportart. Im Sommer 2017 verstarb er im Alter von 96 Jahren.
RHEINISCHE JUBELJAHRE: Mit der Einführung der Bundesliga im Hallenhandball im Jahr 1966 übernahm der VfL Gummersbach das Kommando. Mit Spieler-Ikonen wie Hansi Schmidt, Heiner Brand, Erhard Wunderlich und Joachim Deckarm dominierten die Oberbergischen bis weit in die 80er Jahre hinein die Liga, holten insgesamt zwölf Meistertitel und trumpften auch im Europapokal mit unter anderem fünf Erfolgen im Landesmeister-Wettbewerb groß auf. Doch es folgte ein steter sportlicher Abstieg, inzwischen kämpft der VfL im Tabellenkeller der Bundesliga um seine sportliche Existenz.
WUNDERBARER WUNDERLICH: Erhard Wunderlich, von der Presse seinerzeit ehrfürchtig der „Riese mit den Polypen-Armen“ genannt, gehörte zweifelsohne zu den besten Handballern der Welt. Auf Vereinsebene gewann Wunderlich mit Gummersbach zwischen 1976 und 1983 alles, was es zu gewinnen gab. In der Nationalmannschaft erlebte er mit dem sensationellen WM-Titel 1978 in Dänemark den Höhepunkt seiner einzigartigen Karriere. 1978, 1983 und 1984 erhielt der 140-malige Nationalspieler die höchste sportliche Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland, das „Silberne Lorbeerblatt“. 1999 wurde er schließlich zum deutschen Handballer des Jahrhunderts gewählt. 2012 starb Wunderlich im Alter von 55 Jahren an einer Krebserkrankung.
MÄRCHEN VON KOPENHAGEN: Das Bild ging um die Welt. Es zeigt glückselige Handballer wie Heiner Brand, Erhard Wunderlich, Joachim Deckarm oder Kurt Klühspies, die Vlado Stenzel auf den Schultern durch die Bröndby-Halle tragen. Auf Stenzels schon gelichtetem Haupt sitzt eine Pappkrone, die ihm deutsche Fans nach dem 20:19-Triumph im denkwürdigen WM-Finale über den turmhohen Favoriten UdSSR aufgestülpt hatten. Das Bild vom 5. Februar 1978 beschreibt ein Stück deutscher Sportgeschichte, ‚Magier‘ Stenzel ging als ‚König von Kopenhagen‘ in die Annalen ein. Jener Mann, der den deutschen Handball nach seiner Inthronisierung als Bundestrainer am 1. September 1974 aus dem Dornröschenschlaf erweckte. Dem Desaster von Karl-Marx-Stadt (Platz neun bei der WM 1974) ließen Stenzels Gipfelstürmer WM-Gold folgen.
TRAGÖDIE VON TATABANYA: Es ist der 30. März 1979, als Joachim Deckarm jäh aus dem Leben gerissen wird. Während des Europapokalspiels des VfL Gummersbach bei Banyasz Tatabanya prallt der Weltmeister von 1978 mit dem Ungarn Lajos Panovics zusammen und fällt ungebremst mit dem Kopf auf den nur mit einer dünnen PVC-Schicht belegten Betonboden. Deckarm verliert das Bewusstsein und fällt ins Koma. Die Szenen des schrecklichen Unfalls in Tatabanya haben sich seither ins kollektive deutsche Handball-Gedächtnis gebrannt. Erst nach 131 Tagen wacht der damals 25-jährige Deckarm, der „beste Handballer aller Zeiten“ (Vlado Stenzel), als neuer Mensch auf. Ein hilfsbedürftiger Mensch, der alle Fähigkeiten neu erlernen muss – gehen, sprechen, essen. Seit dem Unfall ist Deckarm auf fremde Hilfe angewiesen. Als „besonderer Kämpfer“ wurde Deckarm 2013 in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.
WUNDER VON MOSKAU: Vier Sekunden sind noch auf der Uhr, als Rechtsaußen Alexander Karsakjewitsch plötzlich frei vor Torhüter Wieland Schmidt auftaucht. Es läuft die Verlängerung des olympischen Finales. Die Fans im Sokolniki-Palast von Moskau kreischen. Karsakjewitsch wirft. Und Schmidt pariert. Es war ein Reflex für die Ewigkeit, der einer deutschen Mannschaft den ersten Titel in der olympischen Handball-Geschichte sicherte. Nach einem 23:22 (20:20, 10:10) gegen den großen Gold-Favoriten und Gastgeber UdSSR feiert das Team der DDR um den späteren Rekord-Nationalspieler Frank-Michael Wahl seinen Sensationserfolg überschwänglich. Während die Kollegen aus dem Westen dem Olympia-Boykott zum Opfer gefallen waren, spielte die Mannschaft von Trainer Paul Tiedemann das Turnier ihres Lebens.
TRIUMPH VON OSLO: Am 5. Dezember 1993 waren Deutschlands Handball-Frauen plötzlich die Königinnen von Norwegen. Mit einem 22:21 (17:17, 8:8)-Triumph nach Verlängerung im Endspiel gegen Dänemark bestieg das Team von Bundestrainer Lothar Doering in Oslo den Thron des Weltmeisters. Der Jubel im deutschen Lager im „Scandinavium“ kannte nach dem ersten Titelgewinn einer gesamtdeutschen Mannschaft keine Grenzen, markierte er doch einen ganz besonderen Tag in der deutschen Handball-Geschichte: Denn mit dem WM-Triumph von Oslo treten die Frauen endlich mal aus dem schier übermächtig scheinenden Schatten der Männer.
KIELER ÜBERFLIEGER: Unersättlich, schier übermenschlich, (fast) unschlagbar: In den 90er Jahren fegte ein wahrer Handball-Orkan namens THW Kiel über die Bundesliga, der mit der Zeit sogar noch an Stärke gewann. Nicht weniger als 17 Meistertitel gehen seit 1994 auf das Konto des großen THW. Unter den Trainer-Ikonen Noka Serdarusic und Alfred Gislason beherrschten die Zebras den deutschen Klub-Handball nach Belieben und sorgten für neue Superlative. Unvergessen bleibt bis heute die perfekte Saison 2011/12, als der Rekordmeister mit sporthistorischen 68:0-Punkten zum Titel marschierte und zudem DHB-Pokal und Champions League gewann. Erst 2016 endete die fast erdrückende Dominanz, als die Rhein-Neckar Löwen erstmal den Thron bestiegen und ihn in der zurückliegenden Saison erfolgreich verteidigten.
DAS WINTERMÄRCHEN: „Es war etwas ganz Außergewöhnliches. Die Leute wissen heute teilweise noch, was sie am Tag des Finales gemacht haben“, sagt Gold-Schmied Heiner Brand über den 4. Februar 2007, den Tag des grandiosen WM-Endspiels gegen Polen (29:24), in der Retrospektive. Ein Land im Handball-Fieber – so etwas wie in jenen verrückten Tagen des Wintermärchens 2007 hatte selbst er, Mister Handball, als Spieler 1978 Weltmeister und mehrfacher Europacup-Sieger, noch nicht erlebt. Unvergessen bleiben die Bilder nach Siegen wie dem dramatischen 32:31 nach zweifacher Verlängerung im Halbfinale gegen Frankreich, als die Spieler um Kapitän Markus Baur nachts von Hunderten begeisterten Fans am Hotel empfangen wurden. Das Endspiel verfolgten mehr als 16 Millionen Menschen im Fernsehen, der Marktanteil von 58,3 Prozent ist bis heute unerreicht. „Wenn nicht jetzt, wann dann …“ – die WM-Hymne der „Höhner“ – schallt bis heute durch die Arenen und erinnert noch immer regelmäßig an den Handball-Rausch, der Deutschland in den Wochen der WM 2007 erfasst hatte. Brand, einziger Handball-Weltmeister als Spieler und Trainer, gehört seitdem zu den ganz großen Persönlichkeiten des deutschen Sports.
COUP VON KRAKAU: Märchen, Wunder – Sensation! Egal, mit welchem Ausdruck man die Europameisterschaft der deutschen Handballer am Ende betiteln mochte, nach diesem unwirklich anmutenden Turnier in Polen war jeder dieser Begriffe Recht – und fast noch untertrieben. Am 31. Januar 2016, dem Tag des Finales gegen Spanien (24:17), erreichte der deutsche Höhen-Rausch noch einmal eine neue Dimension. Keeper Andreas Wolff und Co. schrieben mit ihren beherzten Auftritten ein Kapitel deutscher Sport-Geschichte. Der isländische Bundestrainer Dagur Sigurdsson, der innerhalb kürzester Zeit aus einem Team der Nobodys einen Titelträger formte und eine darbende Sportart so zurück ins Rampenlicht führte, setzte sich mit EM-Gold selbst ein kleines Denkmal.
Quelle: DHB-Homepage: https://dhb.de/nc/der-dhb/aktuell/detailansicht/datum/2017/10/26/artikel/triumphe-typen-und-tragoedien-100-jahre-deutscher-handball.html